„Wie einem traumatisierten Mann echte Liebe zeigen?“

Eine Frau fragte das Team Dr. Love am 20.4.2021 folgendes

Liebes Team Dr. Love,

ich habe eine besondere Frage.
Wie kann ich – eine erwachsene, liebevolle, im Umgang mit Männern erfahrene Frau einem Mann die Liebe zeigen, ihn Liebe er-leben lassen, denn das wünscht er sich aus tiefster Seele von mir.

Das Besondere daran ist, dass er damit keine sexuelle Liebe meint.

Er ist ein sehr attraktiver und charmanter Mann, den die Frauen umschwärmen wie Motten das Licht, und er hat viel körperliche Vereinigung praktiziert, ohne je wirkliche Liebe empfunden zu haben.

Es war eher ein Programm, das er abgespult und weil es von ihm erwartet wurde mitgemacht hat, ohne im Herz berührt worden zu sein.
Jetzt ist er Mitte 50, sieht deutlich jünger aus, lebt seit 1,5 Jahren asexuell und wünscht sich Liebe in ihrer ganzen “Bandbreite” annehmen, spüren, genießen und geben zu können.

Ich glaube, er hatte keinen Vater ( die Eltern waren getrennt, seitdem er geboren war), die Mutter hatte nie eine weitere Beziehung zu einem Mann. Aus Erzählungen schlussfolgere ich, sie ist eine gefühlskalte Frau sein könnte.
Sie war unfähig ihrem Sohn ein Nest und bedingungslose Mutterliebe zu schenken.

Ausserdem hat er einige Zeit in einem Kinderheim gelebt und evtl. im Kindergartenalter Missbrauchserfahrungen dort gemacht.

Ich kenne ihn 2 Jahre, und habe aus der Anfangszeit sexuelle Erfahrungen mit ihm, die kaum/ nicht erfüllend, nährend, wertschätzend… waren. Wir sind uns nach ca. 5 intimen Treffen nur noch wie Bruder und Schwester begegnet und haben uns nach 1 Jahr Wochenendbeziehung getrennt.
Jetzt sind wir uns wieder begegnet, und er bat mich bei einem sehr bewegendem Treffen um Hilfe, denn er ist sehr einsam, auch wenn er wie gesagt ständig von Frauen hofiert wird. Ich bin eine der ganz wenigen Frauen, zu denen er zumindest z.T. Vertrauen hat, und der er sich anvertraut hat.
Ich danke euch von Herzen für eure Anteilnahme und bin gespannt auf eure Antworten.

Wir antworteten

Liebe Fragende,

erstmal möchten wir Deinen liebevollen und engagierten Einsatz für Deinen Freund würdigen. Du machst Dir Gedanken, Du investiert in höchst anerkennenswerter Weise Zeit und Herzblut, um ihm zu helfen.

Und nun wollen wir das gesteckte Ziel genauer unter die Lupe nehmen: Du möchtest ihm Liebe zeigen und erleben lassen. Das ist ein aus unserer Sicht total nachvollziehbarer Wunsch seinerseits und ein folgerichtiges und sehr liebevolles Angebot Deinerseits. Allerdings halten wir euer Vorhaben in dieser Form nicht für realisierbar. Wir glauben, dass jeder Mensch sein Erleben  ausschließlich und vollständig selbst erzeugt. Du kannst also bestenfalls einen systemischen Kontext schaffen, vor allem durch liebevolle beständige Unterstützung bei der Fokussierung seiner Aufmerksamkeit auf sein Ziel. Sein Ziel ist aus unserer Sicht recht deutlich geworden. Aber, was ist Dein Ziel?

Wofür (nicht warum) möchtest Du ihm helfen? Welches gewünschte Erleben in der Zukunft versuchst Du damit für Dich zu realisieren? Welche Bedürfnisse von Dir motivieren Dich zu diesem Unterfangen?

Und welches Erleben etikettiert denn das Wort “Liebe”? Für manche ist es Wohlbefinden, für manche Hingabe, für andere Sex, Sicherheit, Geborgenheit, Lebendigkeit, Leidenschaft, Commitment, Bedinungslosigkeit, Schönheit, Freiheit, Hormonstau und/oder/und…

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dies völlig uneindeutig, sehr ambivalent bzw. sogar “multivalent” ist. Unzählige Kunstwerke, Lieder, Bücher, Gedichte und Gemälde aus allen Kulturen der Welt drücken Liebe in all ihren Facetten aus – und sind dabei recht unterschiedlich in dem, was sie erzählen. Es gibt also keinen objektiven Maßstab, der “Liebe” definiert. Unserer Meinung nach geht es nur um das Erleben, was jede und jeder Einzelne, größtenteils unwillkürlich, in sich erzeugt und mit dem Begriff “Liebe” verknüpft. Und angesichts der Komplexität eines solchen “Erlebnisnetzwerkes” aus Emotionen, Gefühlen, Körperempfindungen, Erinnerungen, Glaubenssätzen und systemischen Verflechtungen, die Teil des Erlebens sind, können wir ohne Übertreibung sagen, dass es genauso viele, einzigartige Erlebnis-Versionen von “Liebe” gibt, wie Menschen auf dieser Erde leben und sich diese “Liebe” in jedem Moment unseres Lebens anders anfühlen kann, je nach Kontext.

Die gute Nachricht ist nun, dass jeder Mensch das Potential hat, sein eigenes Erleben selbstwirksam zu gestalten. Wir sind der Auffassung, dass Erlebnisse der Vergangenheit niemals zwangsläufig, also Linear-Kausal, das Erleben der Gegenwart bestimmen. Die Kindheitserlebnisse Deines Freundes waren mit Sicherheit sehr schrecklich und wir wollen das auf keinen Fall bagatellisieren. Und: Um ins Handeln zu kommen, ist es wichtig, zu verstehen, dass wir im Bezug auf unser Erleben in der Gegenwart die Täter sind und nicht die Opfer. Wie verändern wir nun unser Erleben hin zu etwas Gewünschtem?

Erleben ist nichts anderes als eine Form von hauptsächlich unwillkürlichem Verhalten – unsere lieben Gewohnheiten. Dieses unwillkürliche Verhalten, welches dem Stamm- und Zwischenhirn entspringt, ist immer schneller und stärker als das willentliche Verhalten. Um das unwillkürliche willentlich zu gestalten, gibt es aber sehr effektive Tools in Therapie und Coaching wie z.B.Hypnose, Arbeit mit sinnlichen Metaphern, die Gestaltung innerer Räume, das Positionieren innerer Anteile im Erlebten Raum und vieles andere mehr. Es sind in jedem Fall beständige Rituale liebevoller und wertschätzender Aufmerksamkeitsfokussierung. Das müssen wir in der Regel einige Zeit üben, bevor es uns gelingt, unsere Gewohnheiten zu ändern, und unsere Aufmerksamkeit in unserem Alltag auf das zu lenken, was z.B. eben vielleicht ein Gefühl wie Liebe sein könnte.

Würde es denn den von euch gewünschten Zielen dienen, wenn Du diese Begleitung übernimmst? Möglicherweise bist Du genau die richtige dafür, vielleicht aber auch jemand anders?

Was kannst Du denn also im ersteren Fall konkret tun?

Mache Dir immer wieder bewusst, dass sein Problem-Erleben, also die “Unfähigkeit, Liebe zu erleben”, schon die Lenkung der Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung ist. “Unfähigkeit, Liebe zu erleben” fühlt sich sehr statisch also unveränderlich an und fokussiert auf ein Erleben von Handlungsunfähigkeit. Dies beeinflusst entsprechend das Verhalten und den ganzen Organismus. Wie wäre es, wenn Du stattdessen zum Beispiel von “engagierter Skepsis gegenüber der Etikettierung der eigenen Gefühle mit potentiell bindenden Begriffen” sprichst? Es könnte ja auch sein, dass eine Seite in ihm “Liebe” mit einer Bedrohung verknüpft hat. Aus Dieser Sicht ist es eine sehr anerkennenswerter Lösungsversuch dieser Seite, möglichst kein eigenes Erleben mit diesem Wort zu verknüpfen. Vielleicht findet Ihr ja auch einen ganz eigenen Ausdruck für dieses Phänomen, was Euch da begegnet ist.

Prüft gewissenhaft, ob deinem Freund die Kompetenz, “Liebe zu erleben”, wirklich fehlt. Dies wäre nämlich höchst ungewöhnlich, allein schon, weil er gar nicht wissen könnte, was ihm fehlt, wenn er “Liebe” nicht schon mal in anderen Kontexten erlebt hätte. Vielleicht liebt er Musik, ein Haustier, ein Hobby, ein Gefühl… Dadurch zeigt sich, dass die gewünschte Kompetenz längst vorhanden ist, sie müsste “nur” mit einem anderen Kontext – zwischenmenschlich Begegnung bspw. – vernetzt werden. Vielleicht erlebt er auch längst etwas wie zwischenmenschliche Liebe, nennt es aber aus bestimmten und nachvollziehbaren Gründen anders.

Wir raten Dir und Euch, ausführlich und ehrlich über eure Ziele zu sprechen. Was sind Deine Ziele? Was sind Seine Ziele? Und was sind eure gemeinsamen Ziele? Wir geben in unserem Buch “Die Buddha-Beziehung” ausführliche Hinweise für ein “Spiegelgespräch”, eine Methode für ehrliches und offenes Aussprechen unserer Gefühle und Bedürfnisse.

Und schließlich kann es sein, dass, wenn er sein Erleben namens “Liebe” entdeckt, sich dieses von Deinem merklich unterscheidet. Wenn wir uns mit unseren Unterschieden begegnen, löst das bei den meisten Menschen ein Gefühl von Bedrohung oder Irritation, einen sog. “Konflikt” aus. Darum ist es hilfreich, die “Erhaltung der Unterschiede” unbedingt als gemeinsames Ziel hinzuzunehmen und immer wieder die Aufmerksamkeit dahin zu fokussieren. Eine schöne Metapher dazu sind unsere zwei Augen: Nur weil wir ein Rechtes und ein Linkes haben, ist Tiefenschärfe möglich. Würden sich die Augen auf eine Perspektive einigen, würden sie ihre Ziele des hilfreichen räumlichen Sehens sprichwörtlich aus den Augen verlieren. Ihre Unterschiedlichkeit ist also unbedingt wertzuschätzen und zu erhalten.

Soweit von uns, scheinbar lang und doch sehr verkürzt. Wir hoffen, Du konntest damit etwas anfangen und wir wünschen euch beiden von Herzen viel Erfolg und Selbstwirksamkeit auf eurem weiteren Weg, ob gemeinsam oder nicht.

Chono & Tandana

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